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Obdachlosigkeit und Bedürftigkeit im Bezirk der Wohlhabenden
Ein Mann mittleren Alters sitzt in zerschlissenen Kleidern auf dem blanken Beton vor einem Discounter auf der Dürener Straße. Sein Blick ist apathisch ins Nichts gerichtet. Die Körperhaltung ist straff, die Beine zur Straße gestreckt, sein Rücken betont gerade – ein Ausdruck von Disziplin und gleichzeitiger Abgrenzung zu den Passanten, die ihm nicht zu Nahe kommen dürfen. Der Mann trägt keine Schuhe. Die aufgerissenen und angeschwollenen Füße schmerzen auch den Betrachter. Das Sprechen überlässt der Mensch einem Pappstück, das an einer Mülltonne lehnt: „Für Essen. Bitte.“ Nur drei Worte – die das Leben auf den Punkt bringen. Der Becher vor ihm offenbart einige Kupfermünzen, ein paar 20- oder 50-Cent-Stücke stechen hervor. Lindenthal gilt als reicher Stadtteil einer glanzvollen Metropole, doch der Mangel an elementaren Existenzgrundlagen ist sichtbarer als je zuvor.
Armut wird von vielen Geschichten geschrieben
„Natürlich gibt es Armut in Lindenthal“, sagt Cornelia Weitekamp. „Auf der Berrenrather Straße oder der Sülzburgstraße sieht man immer wieder obdachlose Menschen, die sich vor Hauseingängen niederlassen und dort Schutz suchen“, so die scheidende Bezirksbürgermeisterin. Auch im benachbarten Stadtteil Lindenthal schlafen Menschen in Hauseingängen, Einfahrten und Hinterhöfen, betteln vor Geschäften oder verkaufen die Straßenzeitung „Draussenseiter“. Ihre Biographien sind so unterschiedlich wie ihre Persönlichkeiten. Manche kamen als Flüchtlinge, andere sind hier geboren und verloren durch tragische Geschehnisse in der Familie, Gewalterfahrungen oder Arbeitslosigkeit den Boden unter den Füßen und gerieten in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit.
„Der Bedarf an unseren Essenstafeln in Sülz ist in den letzten Jahren immens gestiegen.“ Pfarrer Gerd Maggi
„Es gibt zwei Sorten von Armut, die plakative-sichtbare und die verdeckte“, erklärt Gerd Maeggi. Der Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Lindenthal erlebt täglich beide Erscheinungsformen, etwa „Adorno“, einen älteren, zumeist in Lektüre vertieften einstigen Philosophie-Studenten, der seinen Spitznamen in Anlehnung an den Soziologen und Philosoph Theodor W. Adorno trägt. Mit vollbepacktem Einkaufswagen inklusive eines Plastikstuhls hält er sich zumeist in der Nähe der Matthäus-Kirche auf, unter dessen Vordach Obdachlose nächtigen dürfen. Die dortige Kleiderkammer werde dagegen von Personen frequentiert, denen man die Bedürftigkeit nicht ansehe. „Das sind Leute, die im Winter ihre Wohnung nicht heizen, weil sie es sich schlicht nicht leisten können“, berichtet der Geistliche. Der Bedarf nach gebrauchten Textilien wie auch die Angebote der Essenstafeln des „Sölzer Körvje“ im Sülzer Tersteegenhaus seien in den letzten Jahren immens gestiegen, weiß Maeggi. Zu letzteren Terminen kämen regelmäßig 40 bis 50 Personen, informiert der Seelsorger. „Wir stemmen das dank der ehrenamtlichen Hilfe, aber wir bräuchten eigentlich Entlastung, zum Beispiel durch eine staatlich finanzierte Sozialberatung. Viele Leute wissen nicht, wie man einen Heizkostenzuschuss beantragt, sich von Arzneimittelzuzahlungen befreien lassen kann oder für die Kinder eine Unterstützung bei Klassenfahrten erhält.“ Bei den meisten Menschen, die in diesen prekären Verhältnissen leben, gäbe es vehemente Brüche im Lebenslauf. „Unsere ‘Eva’ kommt beispielsweise immer nur im Winter. Sie wurde vor zehn Jahren von ihrem Freund in der Wohnung vergewaltigt. Seitdem lebt sie auf der Straße, auch, weil sie sich dort sicherer fühlt und nicht an das Traumata erinnert wird“, so Maeggi. Eine hohe Nachfrage an den monatlichen Lebensmittelausgaben bestätigen zudem die Initiatoren an der Kirche St. Stephan auf der Bachemer Straße.
„Überall dort, wo relativ gutsituierte Menschen leben, gibt es nur wenige Flüchtlingseinrichtungen.“ Cornelia Weitekamp (Bündnis 90/Die Grünen)
Die Thematik Armut sei auch in der Bezirksvertretung Lindenthal präsent, verweist Cornelia Weitekamp auf die Arbeit ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Bezirksvertretung. Bereits 2018 gab es demnach einen Prüfantrag zur Gentrifizierung in Sülz, der mit einer Idee zur Verabschiedung einer Erhaltungssatzung zum Schutz der Mieterinnen und Mieter verbunden gewesen sei. „Die Verwaltung ist damals zu der Feststellung gekommen, dass es keinen ausreichend hohen Verdrängungsdruck gebe“, verweist Weitekamp auf die damalige Verhinderung eines entsprechenden Parlamentsbeschlusses. „Für mich ist die Situation in Weiden wesentlich zwingender. Um das Einkaufzentrum leben viele Flüchtlinge, die in Containern beziehungsweise eher provisorischen Unterkünften untergebracht sind. Ich möchte, dass es dort konstante Beratungsstellen für die Menschen gibt. Das dortige Jugendzentrum fängt schon viele Leute auf, aber das ist nicht genug“, befindet die Lokalpolitikerin von Bündnis 90/Die Grünen. Mit Blick auf die städtische Schaffung von Flüchtlingsunterkünften sieht Weitekamp Stadtteile wie Lindenthal als einen weißen Fleck auf der Landkarte: „Überall dort, wo relativ gutsituierte Menschen leben, gibt es nur wenige Einrichtungen“.
„Niemand muss draußen schlafen, diese vielzitierte Aussage stimmt in der Theorie. Aber in der Realität sieht es anders aus: Viele Alternativangebote sind Mehrbettzimmer, in denen man oft zu viert oder fünft, in einem schlecht ausgestatteten Zimmer eines heruntergekommenen Hotels schläft.“ Street-Workerin Petra Hastenteufel
Seit acht Jahren ist Petra Hastenteufel in Köln als Streetworkerin tätig. Zurzeit betreut die Sozialarbeiterin erwachsene Obdachlose. Dass man auch in Lindenthal vermehrt auf Menschen trifft, die um Kleingeld bitten, ist für sie nicht überraschend. „Ich habe mich früher immer gewundert, warum auf der Dürener Straße niemand bettelt, weil dieser Ort als Reichenviertel gilt. Normalerweise kommen die Leute dorthin, wo Geld ist. Das ist ein gängiges Phänomen in einer Großstadt“, sagt die Mitarbeiterin des gemeinnütziges Vereins OASE. Wie viele Personen in der Rheinmetropole ohne Dach über dem Kopf leben, findet Hastenteufel schwierig zu beziffern. So müsse man zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit unterscheiden. Letztere haben eine vorübergehende Unterkunft aber keine Wohnung. Als Streetworkerin bewege sie sich durch das Stadtgebiet und spreche Menschen an, die sie als Zielgruppe wahrnehme. Darüber hinaus gehe sie Meldungen nach, die von Bürgern oder Mitarbeitern des Ordnungsamtes stammen. „In Köln gibt es viele Menschen, die darauf ein Auge haben“, bemerkt Hastenteufel. Die jeweilige Hilfe sei dann individuell, je nachdem, was sich der Einzelne für seinen Lebensweg vorstelle. Wenn jemand Hilfe wolle, gäbe es im Allgemeinen auch Wege, um zu helfen. „Niemand muss draußen schlafen! Diese vielzitierte Aussage stimmt in der Theorie. Aber in der Realität sieht es anders aus: Viele Alternativangebote sind Mehrbettzimmer, in denen man oft zu viert oder fünft, in einem schlecht ausgestatteten Zimmer eines heruntergekommenen Hotels schläft. Berichtet wurde mir zudem neben durchgelegenen Matratzen auch von Ungeziefer im Zimmer, durch die man kein Auge zutun konnte. Da entscheiden sich viele dafür, lieber draußen zu schlafen, wo es ruhiger ist und man vielleicht mehr Privatsphäre hat“, erklärt Petra Hastenteufel. Dem vielzitierten Prinzip „Housing First“ (Konzept zur gesetzlichen Verankerung des Wohnanspruchs, das in den letzten Jahren die Zahl obdachloser Menschen in Skandinavien reduzierte, Anm. d. Verf.) steht die Sozialarbeiterin mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Ich bin natürlich dafür, dass jedem Mensch ein Wohnraum zusteht. Aber man muss das auch realistisch sehen. Diejenigen, die massiv im Straßenbild auffallen, werden wahrscheinlich die letzten in der ‘Wohnraumkette’ sein. Manche sind verbal noch nicht mal erreichbar. Die meisten der Menschen aus Osteuropa haben keinen Anspruch auf unser Sozialsystem und wollen teilweise auch gar nicht dauerhaft hier ansässig werden. Zudem muss man bedenken, dass auch für Housing First bezahlbarer Wohnraum benötigt wird, der in Köln allerdings rar ist, besonders für unsere Zielgruppe. Und so stößt auch Housing First an Grenzen.“ Wohnraum gehöre für sie jedoch zum elementaren Menschenrecht. Wer Interesse an Veränderungen habe, solle den Mut aufbringen, Lebensraum zur Verfügung zu stellen, denn zu Köln gehöre nicht nur die Armut sondern auch der Reichtum, findet Hastenteufel.
Köln führend in der Wohnungslosentatistik
Dass die Kluft zwischen wohlhabend und bedüftig dennoch wächst, belegt das Statistische Jahrbuch der Stadt Köln für das Jahr 2023. Demnach betrug der Anstieg wohnungsloser Haushalte von 1.999 im Jahr 2010 auf 4.170 im Jahr 2023. Die Quote für SBG-II Leistungsberechtigte Personen mit Anspruch auf Bürgergeld betrug im Dezember 2023 12,4 Prozent (112.526 Menschen). Die LWL-Statistik des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe ordnet die Stadt Köln Ende Juni 2023 zudem mit 10.315 wohnungslosen Personen als Metropole mit den meisten Fällen vor Düsseldorf (4.525), dem Kreis Steinfurt (3.825) sowie Bonn (3.760) ein.
„Schon seit längerem teilen mir Kollegen mit, dass es mit Drogenabhängigen, Bettlern und Obdachlosen in den letzten Monaten zugenommen hat.“ Geschäftsinhaber auf der Dürener Straße
Auf oftmals wenig Verständnis treffen bettelnde oder obdachlose Menschen bei Geschäftsinhabern. Auch entlang der Dürener Straße macht sich Unmut bemerkbar: „Schon seit längerem teilen mir Kolleginnen und Kollegen mit, dass es mit Drogenabhängigen, Bettlern und Obdachlosen in den letzten Monaten zugenommen hat. Die Leute sind mitunter aufdringlich und laut. Es stört schon, muss man sagen. Diese Leute benötigen professionelle Betreuung“, berichtet ein Händler, der anonym bleiben möchte. Die Einrichtung eines Büros mit einem Veedelskümmerer, wie beispielsweise am Eigelstein, sei dabei durchaus sinnvoll, um einen Bürokratieaufwand zu vermeiden, der am Ende doch nichts nützt, so der Befragte.
„Am schlimmsten finde ich die Kälte der Menschen. Für sie bin ich unsichtbar.“ Draussenseiter-Verkäufer Khan
Jemand, der sowohl Wohlstand als auch Armut erlebt hat, ist Khan. Der 52-jährige ehemalige Berufskraftwagenfahrer verkauft seit rund 20 Monaten die Straßenzeitung „Drausseiter“ in Braunsfeld. Jeden Mittwoch und Samstag ist der gebürtige Kölner vor- und nachmittags auf den Marktarealen am Clarenbachstift und an der Ecke Friedrich-Schmidt-Straße/Kitschburger Straße anzutreffen. Zuvor arbeitete Khan lange Zeit am Ebertplatz. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, einmal auf der Straße zu landen. Alles lief gut. Dann starb meine Partnerin an Krebs. Einige Jahre später verlor ich meine neue Gefährtin auch an diese furchtbare Krankheit. Ich konnte unsere Wohnung alleine nicht mehr finanzieren, fing vor Verzweiflung an zu trinken, um den Schmerz zu betäuben, und verlor schließlich meinen Job, in dem ich zehn Jahre gearbeitet hatte. Ich war über zwei Jahre draußen. Da habe ich alles erlebt, natürlich auch viel Gewalt. Dort bist du schutzlos und nicht nur der Witterung sondern auch anderen Menschen ausgeliefert.“ Seine neue Wirkungsstätte im Kölner Westen empfindet Khan als traurigen Ort: „Am schlimmsten finde ich die Kälte der Menschen hier. Für sie bin ich unsichtbar, werde einfach nicht wahrgenommen. Man möchte hier nicht mit Obdachlosigkeit konfrontiert werden“, meint der Verkäufer und verweist auf durchschnittlich ein bis zwei verkaufte Exemplare des Printmediums, von dessen Preis er mehr als die Hälfte behalten darf. Doch Khan hofft auf bessere Zeiten. Vom Job-Center hat er einen Bildungsgutschein für einen Schweißerlehrgang erhalten. Das werde ihn weiterbringen. „Bis dahin wünsche ich mir hier einfach ein bisschen mehr Empathie. Vielleicht mal ein ‘Guter Morgen’. Ist das zuviel verlangt?“
10.2025 // Redaktion: Thomas Dahl, Fotos: Sonja Hoffmann, Thomas Dahl



